Das Loch in der Kindheit

Auweia.
Schon der nächste Post.
Ja, denn mir wird irgendwie langsam aber sicher
immer mehr bewusst.

Es tut ganz furchtbar doll weh, wenn man merkt, 
dass in der Kindheit etwas gefehlt hat. 
Und man es dann aber im Erwachsenenalter versucht zu finden und zu bekommen, 
es aber nicht so funktionieren will, wie man es gerne hätte. 
Furchtbar abartig ist dieses Gefühl. 
Es frisst einen langsam von innen auf, es ist eine nicht enden wollende Sehnsucht. 
Kaum zu glauben, dass so etwas so unendlich viel Schmerz bereiten kann, 
einen so aussaugen und lahmlegen kann. 

Aber ich merke doch langsam,
was die Therapie in mir und mit mir macht.
Warum, wieso und weshalb es mir so schlecht geht.
Ich fange an zu erkennen und zu realisieren,
was "damals" wohl alles passiert sein muss.
An vieles kann sich der Mensch oft nicht mehr erinnern.
Aber das müssen dann wirklich die Momente gewesen sein,
die das Gehirn bzw. die Psyche verdrängt haben,
vielleicht wie eine Art Schutzmechanismus.
Früher oder später wird das aber meistens wieder hochkommen,
bin ich der Meinung.
Und das kann sich dann eben in Form einer Depression,
Persönlichkeitsstörung o.Ä. zeigen.

Kann, muss aber nicht zwingend.
Wie gesagt, auch die Vulnerabilitätsfaktoren sind hier gefragt,
und die sind bei jedem Menschen unterschiedlich.

Ich wusste irgendwie nie so richtig,
wie eine Therapie aussieht, wie das alles funktioniert.
Ich habe mir da immer sämtliche Situationen im Kopf zurecht gemalt,
aber die "richtige" war nie mit dabei.
Eben so, wie es jetzt gerade bei mir ist.
Immer mal wieder hat mir meine Therapeutin erklärt,
was Therapie sein kann, wie sie aussehen kann.
Wo Therapie anfängt und das mein Gesagtes eben nicht unwichtig ist,
wie ich immer der Meinung war.
Alles ist wichtig, jedes noch so kleine Detail hat seine Daseinsberechtigung
und will ausgesprochen werden.
Ich hatte immer Angst, über bestimmte Sachen zu reden,
wollte niemanden schuldig machen oder als Täter darstellen.

"Es geht hier nicht um Schuldzuweisung.
Niemand soll für etwas schuldig gemacht werden,
weder Sie, noch Ihre Eltern.
Wir wollen uns einfach nur anschauen und erkennen,
wie und warum etwas passiert ist, weshalb jemand
so gehandelt hat, wie er es eben gemacht hat,
dass heute die Dinge so sind, wie sie sind.

Trauen Sie sich,
 bringen Sie die Themen mit.
Ich verspreche Ihnen, ich werde nicht urteilen."

So oder so ähnlich hat mir das meine 
Therapeutin mal vor längerer Zeit gesagt.


In der Sitzung am Dienstag (12.12.2017)
hat sie später eine kleine Kiste geholt und einen Stapel Motivkarten ausgepackt. 
Es ging wieder um meine Kindheit und die Beziehung zu meinen Eltern,
auch um das Thema Nähe, Nähe zulassen und zu akzeptieren
und wieso, weshalb und warum das bei mir eben nicht so funktioniert,
wie es eben funktionieren sollte.
Ich durfte mir Karten aus dem Stapel heraussuchen und schauen,
ob diese für mich und meine Themen passen.
Ich habe ziemlich wild und schnell durchgeblättert,
aber sofort angehalten und lange das Motiv analysiert,
wenn ich das Gefühl hatte, die "richtige Karte" gefunden zu haben.
Und diese "richtige Karte" habe ich dann auch gleich 3x gefunden.

Ich habe alle drei Karten hintereinander auf das Tisch'chen gelegt
und zu jeder kurz etwas gesagt.
Auf der ersten Karte war eine Frau zu sehen,
die sich umgedreht und nachhinten geschaut hat.
Bei mir hieß das dann so viel wie
"Ich schaue ständig in die Vergangenheit und kann nicht loslassen,
meine Blicke schweifen immer wieder zurück."

Auf der zweiten Karte, die ich gleich neben die andere gelegt habe,
war ebenfalls eine Frau zu sehen, die scheinbar unglücklich
in einen großen (einen wirklich großen!) Eimer
oder Behälter gefallen war und etwas verwirrt und geschockt aussah.
Das hieß bei mir dann so viel wie
"Ich falle ständig, komme allein nicht mehr richtig hoch,
liege hier und brauche dringend Hilfe.
Dieses Loch verschluckt mich langsam..."

Und auf der dritten und im Nachhinein wichtigsten Karte
war ein Kind zu sehen, ein Mädchen mit blutiger Nase.
Sie lag auf dem Boden, man hat nur ihren Kopf und das Gesicht gesehen.
Ihr Brille war leicht verrutscht und der Blick eher...
einsam, hilflos und verlassen.
Sie lag da und ist einfach nicht mehr hochgekommen.
Ich werde dieses Bild, diese Karte nicht mehr vergessen.
"Das bin ich...
Es kommt mir so vor, als hätte man mich bzw.
mein inneres Kind irgendwo vergessen.
Es sitzt immer noch da, ist verletzt und wartet auf Hilfe.
Es glaubt immer noch daran, dass jemand kommt und es abholt,
jemand sich kümmert..."
war so ungefähr genau das, was ich auf diese Karte hin meinte.
"...dass jemand kommt, 
Ihnen das Blut abwischt, sich liebevoll kümmert
und Sie fragt, was denn passiert ist."
 Ja, genau so fühlt es sich an.
"Wenn ich mir das Bild genauer ansehe,
macht es mich traurig, wirklich traurig.
(...)
Und jetzt gerade habe ich Angst,
dass ich Sie wieder verliere,
den Kontakt zu Ihnen verliere und Sie gehen." 
Ja, weil ich ständig wegdrifte und irgendwie fast schon dissoziiere.
Da könnte jemand anfangen Salsa vor mir zu tanzen,
ich würde es nichtmal ansatzweise mitbekommen.
Olé!
 
"Wissen Sie, am liebsten würde ich sie da herausholen, 
mitnehmen und woanders hinpacken, an einen besseren Ort, in eine andere Umgebung..."
meinte sie etwas stockend.
"Wissen Sie, am liebsten würde ich Sie einpacken und mit nach Hause nehmen."
Und so hat es sich aber irgendwie für mich angehört.
Vielleicht meinte sie es eigentlich so, aber als Therapeut kann man das einfach nicht zu einem Patienten sagen. Vielleicht meinte sie das aber auch nicht so. 
Als meine Thera dann noch meinte, dass ich mir jetzt noch eine Karte
heraussuchen sollte, die für dieses hilflose Kind in dem Moment
am besten gewesen wäre,
hätte ich den ganzen Stapel am liebsten durch den Raum gefeuert.
Nicht, weil ich auf sie sauer war, nein!
Sondern weil das dann der Moment war, in dem ich 
langsam angefangen habe zu erkennen und zu realisieren.
Und gerade das ist unglaublich schmerzhaft.

Ich habe mir den Kartenstapel dann also nochmals genommen
und wieder schnell und wild durchgeblättert.
Ich war sowieso der Überzeugung, darin nichts "verwendbares" mehr zu finden.
Eine Karte, auf der eine Frau Grätsche oder Spagat zwischen zwei Stühlen
macht und dabei die eine Brust rausschaut.
Karten, die eigentlich schon in Richtung Kunst und künstlerische Fotografie gehen,
Karten mit rauchenden Frauen und vollen Aschenbechern.
Wie sollte ich da noch etwas finden, 
was dem Kind in so einem hilflosen Moment helfen sollte?
Kreativität ist da durchaus auch gefragt.

Aufeinmal aber "sprang" mir eine Karte entgegen,
fast schon ein Gemälde, auf dem eine Frau mit einem Baby
in den Armen zu sehen war.
Ich hatte diese Karte sehr lange in der Hand 
und muss ziemlich nachdenklich ausgesehen haben.
Ich habe diese Karte dann schließlich zu den drei anderen
mit auf das Tisch'chen gelegt und gemeint
"Das ist es, genau das.
Vielleicht nicht mehr ganz so klein...
aber doch das.
Der Schutz, die Geborgenheit, was das Kind in 
jenem Moment gebraucht hätte."
Nach einem längeren Schweigen dann die Frage
"Wie schaut die Mutter das Baby an?
Wie ist ihr Blick, was denken Sie?"
Daraufhin habe ich mich erst einmal weggedreht und wieder geschwiegen.
"Es ist... es ist eine Sicherheit.
Geborgenheit, ich... ich weiß es nicht..."

Und wieder sind diese jämmerlichen Tränen gekullert.
Wieder richtig fett auf meinen Schoß geklatscht
und ich habe mich abermals weggedreht.
"Ich finde, das ist ein fürsorglicher Blick.
Ein ganz liebevoller Blick, ein warmer,
wie die Mutter ihr Kind anschaut.
Vielleicht einer, wie Sie ihn zu der Zeit nicht hatten..."
meinte meine Therapeutin mit ganz sanfter und leiser Stimme.
Und das hat Bände gesprochen.

Aber was um Himmelswillen ist da passiert?
Was muss da passiert sein, dass ich so fühle?
Dass ich langsam anfange, Gefühle auf meine Therapeutin zu übertragen,
"töchterliche" Gefühle oder "Tochtergefühle"?
Für mich persönlich stellt das meine Mutter als Rabenmutter da.
Aber ich verlasse mich da auf meine Therapeutin.

Es geht nicht um Schuldzuweisung, es wird nicht geurteilt.
Wir wollen einfach nur sehen und erkennen,
was passiert und wieso es ggf. passiert ist.

Und das, liebe Menschen, ist genau das,
was ich ganz oben mit
"Es tut ganz furchtbar doll weh, wenn man merkt, 
dass in der Kindheit etwas gefehlt hat. 
Und man es dann aber im Erwachsenenalter versucht zu finden und zu bekommen, 
es aber nicht so funktionieren will, wie man es gerne hätte.
 Furchtbar abartig ist dieses Gefühl.
(...)
 es ist eine nicht enden wollende Sehnsucht."
meinte.

Es geht noch viel, viel weiter, viel tiefer.
Aber da bin ich in der Therapie noch nicht angekommen.
Fakt ist aber, dass ich nun auch langsam versuche,
diese Sehnsucht in meiner Therapeutin zu finden und zu stillen.
Sie als das anzusehen, was mir in dieser 
einen ganz bestimmten Zeit in der Kindheit gefehlt hat.
Dieser Schutz. Diese Wärme. Diese Nähe. Diese Geborgenheit. Diese Sicherheit.
Und jetzt will ich plötzlich quasi, dass sie mir das zurückgibt.
Hege innerlich den Wunsch, dass sie mich in den Arm nimmt
und ein "Alles wird gut" ausspricht.
Und diese Umarmung hat sie mir sogar schonmal angeboten!
Allerdings meinte ich da "Jein", weil ich Angst vor dieser Nähe hatte,
obwohl ich es in dem Moment so mega dringend gebraucht hätte.

Ich weiß:
Was Berührungen in Therapien angeht,
spaltet sich die Nation.
Die eine Seite sagt, dass es unprofessionell vom Therapeuten wäre
und in Richtung Missbrauch gehen könnte.
Die andere Seite aber sagt, dass Berührungen
(nicht erotisierend) mehr als tausend Worte sagen
und auch sehr heilsam sein können.
Und ich denke auch, dass es immer auf den Patienten ankommt,
der da gerade sitzt.
Jeder Mensch ist ein Individuum und braucht
deshalb auch eine auf sich "zugeschnittene" Behandlung.
Und wenn da mal eine Umarmung mit bei ist und das
heilsam sein kann, wieso nicht?
Ja, Abhängigkeit.
Aber die kann auch schon mit Worten gef(üttert)ördert werden. 

Und wenn mich meine Therapeutin dann in solchen Momenten
auch noch fragt, was ich denn gerade von ihr bräuchte,
würde ich manchmal am liebsten heulend vor ihr
auf dem Boden zusammensacken.
Denn genau das ist es, was mir oft fehlt, was ich oft bräuchte.
So wie auch jetzt am Dienstag.
Auch da hat sie mich (2x!) gefragt, was ich denn gerade brauche.
Das zweite Mal, als es um das Kind ging, was da irgendwie vergessen wurde.
"Was bräuchte denn das Kind jetzt gerade in diesem Moment,
was würde ihm helfen?"

Man nehme eine Portion Trost, einen Löffel Zuwendung und ein halbes Gramm Geborgenheit.
Oh, und eine Umarmung muss auch noch drin sein.

Und stattdessen habe ich wieder nur mit den Schultern gezuckt,
wie immer eben.
"Ich... ich weiß es nicht..."
Und dabei weiß sie bestimmt ganz genau, was ich bräuchte.
Leute, die Frau ist Psychologin.
Wie eine Dedektivin, aber für Körpersprache und Verhalten des Menschen.
Und als sie mir das letzte Mal im August die Umarmung angeboten hat,
meinte sie davor auch wieder
"Was brauchen Sie jetzt von mir?
(...)
Wissen Sie, ich habe ganz stark das Bedürfnis Sie in den Arm zu nehmen.
Darf ich das machen oder ist Ihnen das zu viel Nähe im Moment?"
Verdammt.
Wer weiß, vielleicht hätte dieser eine Moment schlagartig etwas geändert,
wenn ich es nur zugelassen hätte.
Aber ich war eben noch nicht soweit.
 Und jetzt aber wäre ich langsam eben doch soweit,
weil ich nun dabei bin mich langsam fallen zu lassen. 

Mir graut es nun fürchterlich vor nächsten Montag,
denn das ist meine letzte Sitzung für dieses Jahr,
dann kommen die Feiertage und der ganze Schnick-Schnack dazwischen.
Ich habe wirklich echt Angst davor sie zu fragen,
ob sie mir wieder eine Art "Übergangsobjekt" für die Zeit geben kann.
Genau so, wie sie mir Ende September/Anfang Oktober ihr kleines
Armbändchen gegeben hat, als sie für eine Woche in den Urlaub gegangen ist.
Und das kleine Teil hat mir so unglaublich viel Sicherheit gegeben, unfassbar.

Ich werde ihr zu 100% von meinen Ängsten erzählen
und auch meinen ganzen Mut zusammennehmen,
um sie nach diesem Übergangsobjekt zu fragen.
Ich schaffe langsam aber sicher immer mehr.



Kommentare

  1. Liebe louisenkind :)

    Ohhh was du da beschreibst kommt mir doch soooooo bekannt vor!! Könnte von mir sein. Ich habe mich in meiner ganzen kindheit bis vor einem jahr (ich werde 37) so heftig so gefühlt. Und hatte auch tochtergefühle für meine therapeutin die ich 9 jahre gehabt habe. Bei der jetzigen ist der Altersunterschied zu gering. Ohhh louise ich fühl so mit dir. Jetzt vor gut einem jahr hatte ich endlich eine frau gefunden in die ich mich verliebt habe. Wir waren 3 monate zusammen. Sie konnte die fehlende nähe und Geborgenheit jedoch nicht bieten. Wir waren grundverschieden. Aber hey seit dem bin ich den so deftigen durst nach liebe und nähe ziemlich losgeworden. Ich kann gut ohne damit leben und ich hatte es wirklich extrem stark! Ich konnte die worte liebe nähe geborgenheit gar nicht erst aussprechen. Kannst du das? Kann ich heute noch nicht wirklich gut. Was ich dir mit dem post sagen möchte, meine krankheiten und diese sehnsucht haben nach 35 stark begonnen rückwärts zu gehen und ich fühle mich immer besser. Habe lange gute phasen und die löcher kommen immer seltener. Halte durch!! Ich find dich sehr sympathisch schaue mir deine videos in youtube an. Finde es stark wie du so darüber redest!! Echt toll!! Ich wünsvhe dir von herzen ganz gute besserung und viel kraft und Durchhaltevermögen! Ich bin jetzt 20 jahre in therapie (hier in der schweiz geht das) und mache immer weiter vortschritte. Take care ne liebe Umarmung wenn ich darf und alles liebe doris

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  2. Liebe Louise,
    Ich habe dich/ deinen Blog über YouTube gefunden. Seid Januar (jetzt ist Ende Mai) bin ich in Therapie. Alles was du so schilderst an Gefühlen und Probleme n kommt mir so bekannt vor. Ich bin aber damit immer alleine gewesen, weil ich mich nie jemand anvertrauen konnte. Depressionen habe ich alleine durchstanden und alles mit mir alleine ausgemacht, bis ich irgendwann nicht mehr konnte. Da war( bin ich jetzt immernoch) 35 Jahre alt und habe zum ersten Mal einen Therapeuten. Gefunden, als hätte ich ihn schon mein ganzes Leben gebraucht. Genau das was du in deinem Beitrag geschrieben hast, fühle ich gerade genauso. Und ich bin im Zeitraffer durch diese Stationen im Leben hindurch gelaufen. Vieles was du erzählst oder schreibst hatte ich im Leben auch. Aber es wechselte sich mit anderen Problemen ab, neue Schwierigkeiten entstanden, weil alte verschwunden sind......ein Wechsel der Probleme über ein ganzes Leben verteilt. Ich habe das alles ohne Klinik und co gehabt.
    Aber jetzt endlich nach 35 Lebensjahren bin ich genau an der Stelle angenommen, die du beschreibst. Und das durch die Hilfe eines Menschen (Therapeuten).
    Ich drücke dich ganz dolle und hoffe du hast deine Umarmung bekommen. Wenn nicht, ich habe sie auch noch nicht. Ich würde dich mit aller Liebe drücken.
    Und das meine ich genau so, und dabei kullern dicke Tränen. (Uff, Trigger)
    Mit allen lieben Grüßen,
    Julia

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