"Die Menschenfrau" Part I

Fred & Frau Liebig  
Part I

Ich war schon immer ein sehr schüchterner Mensch, 
eine eigentlich schon fast phobische Person, was andere Menschen anging. 
Auf offener Straße bin ich fast immer mit gesenktem Kopf gelaufen, niemandem konnte ich in die Augen sehen, schon gar nicht gleichaltrigen Menschen. 
Es war immer sehr anstrengend - vor allem, wenn noch der kalte Schweiß hinzu kam. 
Dann hatte ich auch immer gleich noch Angst, andere Menschen mit meinem Geruch zu belästigen. Ganz klar ausgedrückt: Fremde Menschen mit mir, mit meiner Person, mit meiner Anwesenheit und meiner gesamten Existenz zu belästigen. 
Ich war mir selbst nie so sicher, ob mein Dasein gerechtfertigt war. 
Sollte so etwas überhaupt gerechtfertigt sein? 
Mit meinen Mitmenschen bin ich schon immer vorsichtig umgegangen, wenn es sich dabei nicht um die engsten Familienmitglieder gehandelt hat. 
Ich war immer sehr vorsichtig im Umgang mit ihnen, hatte immer die Angst, dass ich doch zu viel sein und jemandem auf den Wecker gehen könnte. 
Mit was? Mit mir, einfach mir. 
Da gab es nichts bestimmtes, sondern gleich die komplette Person Paula Louisa Lange.

Ich habe zu diesem Zeitpunkt gerade mit meinem Studium der Fotografie begonnen und musste an zwei Morgenen der Woche einen langen Weg zum Bahnhof auf mich nehmen. 
Es war Winter und kein leichtes Spiel, 
weil ich durch die Glätte nie vorwärts gekommen bin und fast immer die Bahn verpasst habe. 
An jedem Donnerstag hatte ich von 12 Uhr bis 16 Uhr Unterricht, fast immer gegen kurz nach fünf bin ich wieder am Bahnhof angekommen und auch fast immer 
auf dieser blöden Bahnhofstreppe ausgerutscht. 
Mein Leben ist umgeben von diesem fast immer
Nicht immer, aber eben manchmal, also eben fast immer. 
In dem Bahnhofstunnel flackerte das Licht, müde Gesichter kamen mir entgegen und jeder war für sich, jeder mit seinem eigenen Gedankensumpf beschäftigt. 
Mein Gang war eher langsam, meine Füße schoben 
dunkelbraunen Schneematsch vor sich her und ich wollte nicht wieder ausrutschen. 

Weiter vorne war ein Mann auf dem Boden, er saß auf einer 
Isomatte und hatte seinen schwarzen Hund neben sich zu liegen. 
Vor ihm stand ein schon sehr mitgenommener Pappbecher, 
auf dem man nur noch mit großer Mühe das To Go lesen konnte. 
Ich wollte gerade in meiner Jackentasche nach etwas Kleingeld kramen, 
als kurz vor mir eine Frau eine glänzende 2 Euro Münze in den Becher legte. 
Ja, sie legte das Geld hinein und schmiss es nicht wie andere. 
Im Nachhinein habe ich das Gefühl, dass dieser Augenblick 
sehr langsam und fast schon wie in Zeitlupe ablief. 
Dieser Moment war ein so filmreifer und emotionaler Moment, dass ich selbst aufpassen musste, nicht die Kontrolle über meine Gesichtsmuskeln und Tränendrüsen zu verlieren. 
Während die Frau das Geld also in den Becher legte, sah sie den Mann und seinen Hund sehr lange und sehr traurig an. Es sah so aus, als würden ihr gleich die Tränen übers Gesicht laufen, 
aber sie hatte sich irgendwie im Griff. 
So wie sie den Mann und seinen Hund ansah, musste die Frau irgendetwas mit Menschen machen. Irgendwas sehr soziales, Krankenschwester vielleicht.
Eine richtige Menschenfrau eben.

Als ich mir den Hund genauer ansah, konnte ich feststellen, 
dass dieser eine Art Bandage oder altes Tuch um sein rechtes Hinterbein gewickelt hatte. 
Es war sehr dreckig und teils dunkelrot, was wohl getrocknetes Blut gewesen sein muss. 
Die Frau, die sich immer noch ziemlich unter Kontrolle hatte, 
stand etwas gekrümmt vor dem Mann und ging dann langsam in die Hocke. 
Ich konnte ein leises  
"Hallo Fred, wie geht es Ihnen heute?"  
aufschnappen und sah dann, wie er seinen Kopf langsam 
 nach oben anhob und der Frau direkt in die Augen starrte.  
"Frau Liebig, Sie sind das... Wissen Sie, irgendwie geht es immer. 
Es muss doch gehen, oder nicht?" 
nuschelte der Mann leise durch seinen schon etwas grauen Bart. 
Um den Mund der Frau bildeten sich langsam kleine Lachfalten und ihre Augen fingen an zu glänzen. "Ich bewundere Ihren Lebensmut und Willen, Fred. 
Trotz der schwierigen Umstände sind Sie noch hier und geben nicht auf. 
Geben Sie acht auf sich und Ihren Hund, wir sehen uns die Tage!"
Woher kannten die beiden sich? Wer weiß, vielleicht war Fred ja mal Patient bei ihr.
Vielleicht hat das auch alles mit seiner Obdachlosigkeit zu tun.
Wenn sie überhaupt Krankenschwester war...

Die Frau erhob sich langsam und drehte sich in Richtung Bahnhof um. 
Sie schenkte dem Mann noch einen kurzen, warmen Blick und das war es. 
Ich stand ganz knapp vor den beiden und war viel zu tief in all dem versunken, 
als die Frau mit den dunklen Locken und der Bommelmütze plötzlich in mich hineinrannte.  
"Oh, pardon, meine Schuld!" 
sie lächelte mich freundlich an, ging an mir vorbei und dann in Richtung Bahnhof. 

Nein, eigentlich war es meine Schuld, denn ich stand im Weg und habe nicht reagiert. 
Und wiedereinmal hatte ich das Gefühl, dass ich zu viel war. 
Ich stand dort herum, beobachtete zwei Menschen 
für gefühlte Stunden und versperrte anderen den Weg.  
"Dumm, einfach dumm von mir. 
Das nächste Mal schaue ich einfach wieder auf den Boden und gehe schnurstracks nach Hause. Und wenn ich hier ausrutsche, es ist mir egal." 
murmelte ich und ging nach Hause.



P.S.: Heute um 15 Uhr habe ich wieder Therapie.
Die letzte Sitzung in diesem Jahr, etwas wehmütig bin ich schon.
Ob es auch die letzte Sitzung vor der Klinik sein wird, weiß ich nicht.
Aber ich glaube, dass ich die Zeit ohne "Übergangsobjekt" nicht gut überstehen werde. 

Kommentare