"Die Menschenfrau" Part II

Mir kann man nicht helfen
Part II 

"Ich hasse es, wenn du abstürzt und nicht das machst, was ich will!
Es ist so furchtbar nervig, weil ich so viele Dinge an diesem Computer machen muss...
Du scheiß teures Teil, mach endlich!
Ich muss in einer halben Stunde los und will nicht schon wieder die Bahn verpassen!
Die Glätte draußen macht es einem sowieso schon schwer genug..."
Mit den Fingern schnippste ich genervt gegen den 
eingefrorenen Bildschirm und ließ alles so, wie es in dem Moment war.
Ich konnte mir mein Zuspätkommen nicht mehr länger leisten 
und machte mich deshalb schnellstens auf in die Eiseskälte.
Und wieder einmal war es ein Donnerstag, der mir das Leben so schwer machte.
Draußen wütete der Schnee, die Kälte nahm sich meinen Körper, schlang sich energisch um mich und der Boden war so glatt, dass ich gleich dreimal hintereinander hinfiel.
Ohne Gnade, diese Jahreszeit hatte kein Erbarmen mit mir.
Beim dritten Mal lief mir das Blut wohlwollend 
aus der Nase heraus und färbte den Schnee unter mir knallrot.
Es war ein schönes Rot, so schreiend knallig und aggressiv,
genau wie ich mich in dem Moment auch fühlte.
Ich hätte am liebsten ganz laut und aggressiv geschrien, 
mich im Schnee gewelzt und angefangen zu heulen.
Wenn sich die Gefühle in mir mal wieder gegenseitig langsam hochschaukeln,
gibt es meistens eigentlich keine Rettung mehr...
und so war es eben auch diesmal wieder.

Wütend und voller Zorn stapfte ich im Schnee zum Bahnhof,
dort angekommen setzte ich mich erst einmal auf die Treppe und fing an zu weinen.
Die Tränen rannten im Wettlauf über mein Gesicht und vermischten sich mit dem restlichen Blut,
was immer noch hartnäckig unter meiner Nase klebte.
Eine nach Salz und Eisen schmeckende Flüssigkeit drang in meinen Mund und zwischen meine Zähne, die ich verkrampft und knirschend zusammenbiss.
Der Bahnhof war überraschend leer.
Obwohl, an einem Donnerstag gegen Mittag vielleicht auch nicht ganz unüblich...
"Ich hasse das alles.
Warum muss immer alles zusammen und aufeinmal passieren und gerade dann,
wenn man es am wenigsten gebrauchen kann?
Warum, warum, warum...
und dann habe ich meine Emotionen wieder nicht im Griff
und alles kommt gleichzeitig und zusammen ho..."
Plötzlich fing eine mir irgendwie bekannte Stimme an zu sprechen. "Entschuldigen Sie, kann ich Ihnen helfen?
Sie sind ja völlig aufgelöst..."
Die Stimme kam näher an mich heran und weiter zu mir nach vorne.
Als ich dazu dann auch noch das Gesicht sah, blieb mir für einen kurzen Augenblick den Atem weg.
Es war die Frau von letzter Woche, vom letzten Donnerstag.
Die Frau mit der 2 Euro Münze, die Frau mit dem warmen Blick, den netten Worten, den dunkelbraunen Locken und der Bommelmütze.
Es war die Krankenschwester, die Menschenfrau.
Die Frau, die sich bei mir entschuldigt hat,
obwohl ich dumm vor ihr stand und ihr den Weg versperrt habe.
Lange habe ich ihr ins Gesicht gestarrt, in die braunen Augen
und auf die große Bommelmütze.
Ich muss ausgesehen haben wie sonst etwas.
Das Gesicht von Tränen überströmt, getrocknetes Blut unter der Nase,
zerzauste Haare mit Schnee vermischt und weit offene, starrende Augen.
 "Geht es langsam wieder?
Möchten Sie ein Taschentuch haben, kann ich Ihnen irgendwie helfen?"
sprach die Menschenfrau mit sanfter Stimme.
Vielleicht war sie ja gar keine Krankenschwester, sondern...
Ärztin oder so.
"Danke, aber mir ist nicht mehr zu helfen."
platzte es unfreundlich und harsch aus mir heraus.
Meine Bahn stand da und ich bin um mein Leben gerannt.
Was soll mir eine wildfremde Frau helfen?
Sie hat schon dem obdachlosen Fred letzten Donnerstag geholfen.
Ich hatte den letzten Platz am Fenster ergattert und warf einen Blick
zu der Treppe rüber, auf der ich eben noch gesessen habe.
Die Frau stand immer noch da,
aber eher etwas verwirrt und fast selbst schon hilflos.
Ihr Blick ging runter zu der Stufe,
auf der ich eben noch gesessen und sie angestarrt habe.
Als sich die Bahn langsam anfing zu bewegen,
drehte sie sich plötzlich um und schaute mich durchs Fenster an.
Ihr Blick war zuerst sehr leer, dann aber irgendwie traurig und enttäuscht.
Langsam drehte sie den Kopf wieder in Richtung Tunnel und ging Stufe
für Stufe die Treppe hoch, bis sie endgültig verschwunden war.
Die Bahn war nun richtig in Fahrt gekommen und ich auf dem Weg zur Akademie.
"Vielleicht sollte ich mir das Gesicht mal abwischen..."
dachte ich mir und fand kein Taschentuch in meiner Jacke.
Hätte ich doch bloß eben "Ja" gesagt bei der Frau...


Fortsetzung folgt...

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